Reisen

Josten på langs

Josten på langs, Norwegen, Foto: Martin Hülle

Viele Touren habe ich im Norden unternommen. Im Sommer wie im Winter. Einige der Erlebnisse blieben davon besonders haften. So vor allem folgendes Abenteuer, das zu einer Erfahrung im Grenzbereich wurde.

Eine Skitour über den größten Gletscher Norwegens

Eine Winterüberquerung des Jostedalsbreen, des größten Gletschers in Norwegen, war schon in jungen Jahren ein Ziel von mir. Bereits 1995 wagte ich einen ersten Versuch, scheiterte mit einem Freund jedoch frühzeitig sang- und klanglos aufgrund mangelnder Erfahrung und schlechter Routenplanung.

Im Jahr 2000 glückte dann eine erste Überquerung im Sommer mit Schneeschuhen – ausgehend von Skei im Südwesten bis ins Stordalen nördlich des Berges Brenibba. Diese Tour wiederholte ich 2004 – ebenfalls in der warmen Jahreszeit – im Alleingang und mit Kurzski auf gleicher Route.

Aber noch immer reizte mich der Winter und zudem eine Komplettüberquerung des ganzen Gletschersystems samt seiner nördlichen Anhängsel. 2010 also ein neuer Winterversuch, dieses Mal von Norden kommend mit einem Start in Pollfoss. Wir schafften es bei bestem Wetter über die ersten Gletscher, doch auf den eigentlichen Jostedalsbreen gelangten wir nicht – es lag zu wenig Schnee, um in einer Zweierseilschaft den Aufstieg über den spaltenreichen Gletscher Småttene gefahrlos begehen zu können. Also kehrten wir um und saßen während des Rückwegs noch drei Tage in einem Sturm fest …

Doch es galt, nicht aufzugeben und an dem Ziel festzuhalten. Daher machten wir uns vor ein paar Jahren erneut auf, die Strecke von Pollfoss im Norden bis nach Fjærland im Süden im Winter zu schaffen. Nun zu viert. Und mit optimierter Ausrüstung, Erfahrung und Taktik sollte es jetzt endlich klappen!

Los geht’s
Nach unserem Aufbruch in Pollfoss folgten wir zu Beginn einem Fahrweg, auf dem mit zunehmender Höhe immer mehr Schnee lag. Recht entspannt und guter Dinge erreichten wir mit Ski und Pulka-Schlitten den Raudalsvatnet, wo uns allerdings prompt das erste Hindernis erwartete: Hinunter zum Stausee wollten wir eine hölzerne Treppe hinabsteigen, die ich von einem früheren Versuch kannte, die jetzt jedoch nur schwer zu erreichen war. Tiefverschneite Hänge und steile Passagen schienen den Zugang zu den obersten Stufen zu versperren. Wir installierten eine Seilsicherung und gelangten in einem langwierigen Prozess schließlich in tiefere Lagen. Müde und geschafft biwakierten wir die erste Nacht in einer Art Tunneleingang unweit der Staumauer.

Weiter ging es am zweiten Tag über den zugefrorenen See bis zur kleinen Skridulaupbu-Hütte. Das Wetter war mäßig und wir froh, hier noch einmal einen gemütlichen Unterschlupf zu finden, bevor es hinaufgehen sollte auf das eisig kalte Gletscherplateau.

Steil war nach der Hüttennacht der Aufstieg über einen Bergrücken, den wir in unzähligen Serpentinen meisterten. Doch einmal am Gletscherrand angekommen, zog es sich zu und jegliche Sicht war prompt dahin. Mit GPS-Hilfe und Kompass zogen wir hinein in den White-Out und schlugen auf dem Sikilbreen unser erstes Gletscherlager auf.

Auch am Folgetag, dem vierten der Tour, kam die Sicht nicht zurück. Trotzdem marschierten wir weiter über den Sygneskardbreen bis zum Berg Klubben. Schritt für Schritt. Stunde um Stunde. Es war anstrengend, voranzulaufen in die milchige Suppe ohne oben und unten. Doch hier auf besseres Wetter zu warten, war keine Option. Was sollte in der weitläufigen und flachen Landschaft auch schon passieren? Also legte ich stur die Spur, bis wir uns einmal mehr in den Zelten verkrochen.

Am nächsten Morgen erwartete uns hingegen das Glück. Über Nacht war die Wolkendecke aufgerissen und wir erlebten daraufhin einen Traumtag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Genau zum rechten Moment, um an der Stornosa vorbei zum oberen Erdalsbreen und dem markanten Berg Lodalskåpa zu gelangen, wo das Nadelöhr der Tour auf uns wartete …

Über den Småttene
Tief unter dem Gipfel der Lodalskåpa zieht der Småttene, dieser so oft extrem zerklüftete Gletscher, der mich bei meinem letzten Winterversuch zum Rückzug zwang, zum Jostedalsbreen empor. Doch um zum Fuß des Småttene zu gelangen, mussten wir zuerst noch einen steilen Gletscherhang hinab. Wir seilten uns an, schnallten die Ski auf die Schlitten und stiegen vorsichtig hinunter auf den Lodalsbreen, hinein in einen bedrohlichen Kessel aus Eis und Fels.

Dort suchten wir erst einmal ein flaches Plätzchen und schlugen unser Lager inmitten dieser gewaltigen Szenerie auf. Wir hofften auf weiterhin stabiles Wetter mit guter Sicht, um anderntags einen Weg über den Småttene zu finden und hinaufzugelangen auf das eigentliche Plateau des Jostedalsbreen.

Früh standen wir am folgenden Morgen auf, packten zusammen und stiegen empor. In einem weiten Bogen querten wir den Gletscher unterhalb sichtbarer Spalten und Eisbrüche. Irgendwann wurde es für die Ski zu steil, wir wechselten auf Spikes und seilten uns an. Dicht an den Felsabbrüchen der Lodalskåpa fanden wir einen Durchschlupf vorbei an den größten und tiefsten Schlünden.

Doch längst war erneut Bewölkung aufgekommen. Es wurde nicht nur immer dunkler, sondern auch ein Wettlauf mit der Zeit, rechtzeitig aus dem Gröbsten raus zu sein. Erst als es wieder flacher wurde und die Spaltenzone hinter uns lag, machten wir eine längere Pause. Wir hatten den Aufstieg über den Småttene geschafft. Von hier ging es wieder einfacher weiter hinaus auf die riesige Gletscherfläche des Jostedalsbreen. Aber ehe wir uns versahen, legten sich die Wolken wieder ganz dicht auf die Schneefläche und die Sicht schrumpfte erneut auf ein Minimum. Das gute Wetter hatte gerade solange angedauert, das Nadelöhr der Tour zu passieren.

Irrglaube
Nachdem wir an diesem, dem sechsten Tag unserer Skitour, den Aufstieg über den Småttene geschafft hatten, und sich von da an das Plateau des Jostedalsbreen vor uns ausbreitete, zogen wir nur noch wenige Kilometer weiter, bevor wir erneut unsere Zelte aufbauten. Das Wetter wurde zusehends immer schlechter und wir hatten soeben einen Kraftakt hingelegt. Mehrere hundert Höhenmeter empor durch tiefen Schnee riefen nach etwas Ruhe. Zwar lag jetzt noch ein großes Wegstück vor uns, aber wir glaubten, den Rest der Gletscherüberquerung in den verbleibenden vier Tagen – für diese Zeit hatten wir noch Verpflegung dabei – gut zu schaffen. Immerhin würde es von hier bis zum Ende des Eises nur noch flach weitergehen und größere Schwierigkeiten schienen nicht mehr auf uns zu warten. Wir sollten uns irren …

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Allerdings hatten wir zuerst noch einmal Glück. Als wir südwärts weiterzogen über das Plateau des Jostedalsbreen, vorbei am Berg Kjenndalskruna, der uns als Landmarke diente, durchbrach die Sonne mancherorts für kurze Momente die Wolkendecke und ließ uns die Weite der Gletscherlandschaft erahnen. Es waren herrliche Momente, auch wenn der Wind stetig kräftig blies und unsere durch den Schnee gezogenen Spuren rasch wieder zuwehte.

Aber wir kamen ganz gut voran, schafften Kilometer um Kilometer und erreichten nach vielen Stunden den höchsten Punkt des Jostedalsbreen – Høgste Breakulen – einen unscheinbaren Buckel, flache 1.957 Meter hoch.

Doch mittlerweile hatte es sich schon wieder komplett zugezogen und der Wind nahm weiter an Fahrt auf. Es war ungemütlich und wir machten uns daran, ein Stück unterhalb des „Gletschergipfels“ nach einem Lagerplatz zu suchen. Doch im Grunde war hier jeder Fleck wie der andere. So errichteten wir unsere beiden Zelte einfach irgendwo im Nirgendwo, nur darauf Bedacht, die Tunnel genau in Windrichtung aufzustellen, der solidesten Form.

Im Laufe des Abends wurde der Wind immer stärker. Und dann drehte er urplötzlich und völlig unerwartet um 90 Grad. Mist. Nun wehte er auf die Breitseiten der Zelte! Nicht ideal, aber wir vertrauten auf die bewährten Konstruktionen und die solide angebrachten Abspannungen im festen Schnee.

So schliefen wir mit den Gedanken ein, eh nicht lange an diesem unwirtlichen Ort zu bleiben und am nächsten Tag weiterzulaufen. Nicht zu wissen, was noch kommt, hat oft sein Gutes. Denn wir wussten nicht, dass sich die Hölle schon längst auf den Weg zu uns gemacht hatte und drauf und dran war, über uns herzufallen.

Gefangen in Schnee und Eis
Am Morgen des achten Tages hatte uns der Sturm vollends im Griff. Peitschende Böen schlugen auf die Zelte ein, tobender Schnee wirbelte über die kahle Fläche. Schutzlos waren wir den Elementen ausgesetzt und saßen fest in einem White-Out, der uns nur wenige Meter weit blicken ließ. An ein Weitergehen war nicht zu denken.

Eins der Zelte wurde vom Wind besonders angegriffen und bekam die volle Wucht zu spüren. Um es besser zu verankern, spannten wir es an einer Seite mit zusätzlichen Leinen ab, die wir im Schnee mit unseren Skistöcken fixierten. So stand es solider, die Gestängebögen wurden ein wenig entlastet und wir konnten kurz durchschnaufen.

Doch langsam häufte sich immer mehr Schnee an, der dem Zelt immer stärker auf den Leib rückte. Häufig mussten wir raus und das Zelt freischaufeln. Eine leidvolle Arbeit inmitten der außer Rand und Band geratenen Elemente.

Bis zum Abend waren die Schneemassen so hoch wie das Zelt. In völliger Dunkelheit schufteten wir stundenlang, um unsere Behausung vor dem Untergang zu schützen. Schneeverkrustet krochen wir nach getaner Arbeit wieder hinein, wo uns bald die Müdigkeit überkam und wir in einen unruhigen Schlaf sanken.

Am nächsten Tag stand uns allerdings früh das Entsetzen im Gesicht. Das Zelt hatte es über Nacht fast komplett zugeweht. Die Lüfter waren vom Schnee bedeckt und wir schafften es kaum noch durch die Türe hinaus. Mit bis zu 35 m/s wütete der orkanartige Sturm auf dem Jostedalsbreen und raubte uns fast die Luft zum Atmen. Wieder schwangen wir die Schaufeln und legten ein aufs andere Mal unsere Leben spendende Nylonhütte frei. Eine Sisyphos-Arbeit, deren Ende nicht abzusehen war.

Außer Kontrolle
Als der Sturm nach zwei Tagen des Ausharrens einen Tick nachließ, befreiten wir die Zelte aus ihrer eisigen Umklammerung und zogen weiter. Wir glitten im White-Out, der sich einfach nicht verziehen wollte, sanfte Gletscherhänge hinab, umkurvten die Berge Kvitekoll und Ramnane und stemmten uns den nächsten Anstieg empor. In der Zeit frischte der Wind erneut ordentlich auf und er blies uns mal wieder kalt und kräftig ins Gesicht. Trotzdem versuchten wir, die Ideallinie zu halten. Wir blickten immer wieder auf unsere GPS-Geräte und hangelten uns von Wegpunkt zu Wegpunkt.

Doch Schritt für Schritt wichen wir dem Wetter unmerklich aus und wurden vom Sturm abgetrieben vom sichersten Weg. So stolperten wir in einen steilen Hang am Rande des Jostedalsbreen. Als eine Thermoskanne von einem der Schlitten rutschte und in den Tiefen entschwand, erkannten wir den Ernst unserer Lage. Raum und Zeit waren uns entglitten – in Kürze würde es dunkel werden und wir steuerten geradewegs einem Abgrund entgegen. Wir schrien uns an – sofort musste eine Lösung her.

Kurzerhand hasteten wir den Hang hinauf und suchten nach einer halbwegs flachen Stelle. Es galt nur noch, einen sicheren Lagerplatz zu finden. Als die Steilheit abnahm, bauten wir so schnell es eben ging bloß eins der Zelte auf und quetschten uns alle gemeinsam hinein. Gekocht wurde an diesem Abend nicht mehr. Wir waren nur heilfroh, aus dem tobenden Wind heraus zu sein. Als ich später noch einmal ums Zelt lief, um alle Verankerungen zu kontrollieren, schaffte ich es kaum zurück zum Eingang, so heftig war der Sturm, dem ich mich mit aller Kraft entgegenstemmen musste.

Und als hätten wir bis dahin nicht genug Leid erfahren, wurde uns auch an diesem Ort ein weiterer Tag im Zelt aufgezwungen. Noch immer war keine anhaltende Wetterberuhigung in Sicht. Also fingen wir an, unsere Essensvorräte zu rationieren. Die Tour war zu einem Ritt auf der Rasierklinge geworden.

Ans Ziel
Schließlich schlief der Sturm dann doch noch ein – wie so oft gefolgt von herrlichstem Wetter. Wir packten zusammen und machten uns rasch auf den Weg, die noch verbleibenden Kilometer über den Jostedalsbreen hinter uns zu bringen. Von einem blauen Himmelsdach strahlte die Sonne, als wir die Engstelle Bings gryte passierten und später am Gipfel Supphellenipa einbogen auf den Gletscher Supphellebreen.

Es ging hinab in tiefere Lagen und auf den Flatbreen, dem wir bis zu seinem Ende folgten. Hier wurde es noch einmal spannend, eine Passage zwischen Spalten hindurch auf festes Land zu finden. Aber es klappte. Nach etwas Auf und Ab und Kreuz und Quer erreichten wir am zwölften Tag die Flatbrehytta, die wie ein Adlerhorst über der Landschaft thront.

Die Nacht verbrachten wir in der Hütte. Am nächsten Tag wollten wir früh los und schnell den steilen aber kurzen Abstieg zum Fjærlandsfjord in Angriff nehmen. Doch das, was eher eine abschließende Fußnote der Tour werden sollte, entpuppte sich zu einem letzten Kraftakt, der uns noch einmal völlig forderte und auspumpte.

Wir kraxelten im Morgengrauen Schneeflanken hinunter, über unwegsame Lawinenkegel und zu einem Bachlauf im Tverrdalen. Hier hätte eine Fahrspur beginnen sollen, doch sie war von einem Erdrutsch vernichtet worden. Ein Stück ging es scharf am Wasser entlang über glitschige Steine. Dann erreichten wir später zum Glück doch noch den Weg, dem wir zwischen tief hängenden Ästen und umgestürzten Bäumen hindurch bis zur Straße im Supphelledalen folgen konnten.

Bis zum finalen Endpunkt blieb es ein Abenteuer – erst jetzt lag alles hinter uns. Wir hatten die Winterüberquerung des Jostedalsbreen geschafft – aller Widrigkeiten zum Trotz!

Weitere Eindrücke findet Ihr im Blog von Simon på tur (Teil 1, Teil 2, Teil 3)

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1 Kommentar Neuen Kommentar hinzufügen

  1. Simon sagt:

    Da werden Erinnerungen wach, die mich auch jetzt noch voller Demut zurückblicken lassen! Die Gewalt des Nordens so zu erleben, hat mich nachhaltig beeindruckt und mir gefriert auch jetzt noch das Blut in den Adern, wenn ich an die ein oder andere Situation auf dieser Tour denke!

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