Reisen Wandern

Abenteuer Spitzbergen

Schneesturm und White-Out auf Spitzbergen, Svalbard, Foto: Martin Hülle

Nichts ging mehr. Oberhalb des Klauvbreen und hinter dem Moskushornet kauerte ich in unserem Zelt. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Vom Nacken zogen sie über die Schulter bis in den linken Oberarm. Wohl ein eingeklemmter Nerv!? Ich kannte die Symptome. So etwas hatte ich vor Jahren schon einmal. Damals daheim. Aber jetzt, weit weg von allem, abgeschieden auf Spitzbergen, in der Arktis, passte mir das noch weniger in den Kram. Ich war verärgert. Und enttäuscht. Warum ausgerechnet hier? In diesem eisigen Traumland? Ich wollte es nicht wahrhaben, doch der Versuch, mit den Schmerzen weiterzulaufen, in der Hoffnung, sie würden nachlassen, war vergebens. Es nützte nichts. Unsere Skitour über die Hauptinsel Svalbards frühzeitiger zu beenden, war die einzige verbleibende Lösung. An diesem Abend verschlang ich mein Trek’n Eat Gericht – Sahnenudeln mit Hühnchen und Spinat – so schnell es ging. Weil das Löffeln aus der Tüte so schmerzhaft war, ich diese sitzende Essposition so bald wie möglich hinter mich bringen wollte, um wieder zurück in eine zumindest einigermaßen aushaltbare Liegeposition zu fallen. Es war zum Haare raufen.

Der Reihe nach

Eine gute Woche zuvor blickte ich aus dem Fenster einer Scandinavian Airlines-Maschine über eine tiefblaue Wolkendecke. Die untergehende Sonne zauberte einen letzten Strahl hervor, der sich als roter Schimmer über den weichen Teppich legte. Es war kurz vor Mitternacht. Am Horizont zeigten sich einzelne Bergspitzen. Dann setzte das Flugzeug auf der vereisten Piste in Longyearbyen auf. Ein strammer Wind empfing uns auf dem Rollfeld, der auch am nächsten Tag noch wehte, als wir durch den Ort liefen und letzte Besorgungen für unser bevorstehendes Abenteuer machten. Wir kauften Benzin und stemmten uns zwischen den Läden dem heranpeitschenden Schneefall entgegen. Die Begrüßung der Arktis war nicht sonderlich herzlich, aber wir nahmen es ihr nicht übel. Bald sollte sich das Wetter beruhigen und wir hatten bis dahin genügend Zeit, in Ruhe unsere Pulka-Schlitten zu packen und noch etwas abzuwarten, bevor wir aufbrechen würden in die Berg- und Gletscherwelt.

Als wir dann endlich loszogen, marschierten wir weit hinein ins Adventdalen, am Janssonhaugen und der Innerhytta vorbei, bis zum Fuße des Drønbreen. Hinauf ging es von dort über den Gletscher bis zu einem Pass. Der Schnee war tief, die Last der Schlitten schwer. Ich zählte die Schritte. An den steilsten Stellen schaffte ich gerade mal 20, dann musste ich kurz stehenbleiben und kräftig durchatmen. Doch die Szenerie ringsum entschädigte für alle Anstrengung – das arktische Ambiente hatte mich längst in seinen Bann gezogen. Am höchsten Punkt bemerkte Johannes, dass er seine Schneeschaufel verloren hatte, die auf seiner Pulka festgezurrt war. Arrgh. Ein kurzer Fluch. Doch was sollten wir machen? Kurzerhand rutschten wir mit den Ski unsere Aufstiegsspur wieder hinab. Weit unten fanden wir die Schüppe wieder. Immerhin waren wir ohne die schweren Pulkas, die wir am Pass zurückgelassen hatten, zügig wieder oben. Und tranken dort einen extra Schluck warmen Tee für die extra Meter. Doch so wurde es spät, bis wir auf der anderen Seite den Bergmesterbreen hinabgelaufen waren und unterhalb des Aasgaárdfjellet unser Lager für die Nacht aufschlugen.

Weiter liefen wir durch das Lundströmdalen bei herrlich blauem Himmel. Den Såtebreen empor wurde es immer kälter und wir hatten am Abend unsere liebe Müh damit, den Stolperdraht rings ums Zelt aufzubauen. Bei minus 20 Grad war die filigrane Arbeit lästig, aber der Alarmzaun ließ uns ruhiger schlafen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, soweit entfernt von der Küste auf einen Eisbär zu treffen, sehr gering war. Dem Sveigbreen folgten wir von hier in einem Bogen ins Agardhdalen. Dann ging es über den Elfenbeinbreen auf das Nordmannsfonna. Selbst bei trüber Witterung genoss ich jeden Schritt in dieser Welt aus Eis.

Ostern im Zelt

Schlechtes Wetter hielt uns am Berg Dolken gefangen. Wind trieb Schnee über die weitläufige Gletscherlandschaft und die Sicht schrumpfte auf ein Minimum. Es war Ostermontag und wir machten es uns mit Süßigkeiten im Zelt bequem. Den ganzen Tag saßen wir fest. Dann noch einen. Schließlich beruhigte sich die Lage, ich schnappte mir eine Schaufel und grub mir ein Loch im Schnee. Ich musste aufs Klo. Und da war er dann. Dieser Schmerz. Er kam aus dem Nichts. Und blieb. Im Schlafsack konnte ich von nun an nicht mehr normal liegen. Nur auf der rechten Seite, den linken Arm über den Kopf gelegt, fand ich noch etwas Ruhe. Ich zählte die Stunden, war froh, wenn ich zumindest für Momente einschlummerte. Aber noch hatte ich Hoffnung. Vielleicht war das Rumlungern im Zelt einfach nicht gut für mich und Bewegung würde die Verspannung wieder lockern und den Druck auf den Nerv lösen? Also hielten wir erstmal an unserem Plan fest, packten zusammen und wanderten weiter.

Und so schafften wir es auch bis ins Sabine Land. Ich war zuversichtlich, der Schmerz meist zu ertragen und mein Durchhaltewillen noch nicht gebrochen. Doch dann kam der Tag, an dem wir unterhalb des schroffen Moskushornet über den Klauvbreen stiegen. Ein kalter Luftstrom zog mir über die Schultern und ich bekam Nackenschmerzen. In Windeseile wurde jeder weitere Schritt zur Tortur. Der eingeklemmte Nerv im Arm schrie immer lauter auf und ich krümmte mich immer mehr. Dass das Wetter in dieser Situation dicht machte, sich die Landschaft in einen White-Out hüllte, kam mir gerade recht. Der weitere Weg war nicht auszumachen, also bauten wir das Zelt auf, um erstmal abzuwarten. Aber der Stillstand machte es nicht besser. Im Gegenteil. Die Stunden im Zelt waren eine einzige Qual. Nahezu alles beschissen. Wir hatten den Endpunkt erreicht.

Uns weiter von der Zivilisation zu entfernen, war sinnlos. Auf kürzestem Weg zurückzukehren nach Longyearbyen, war die letzte Herausforderung. Bis es allerdings aufklarte und wir den Rückmarsch antreten konnten, hingen wir noch einen weiteren Tag bei Schneesturm im Zelt fest. Erst danach liefen wir in zwei langen Tagen über den Rabotbreen hinab ins faszinierend weite Sassendalen und durchs Eskerdalen und Adventdalen retour zum Ausgangspunkt. Das klappte überraschend gut und im Stillen fragte ich mich, ob ich zu früh klein beigegeben hatte. Doch es war die richtige Entscheidung. Besser erhobenen Hauptes aus eigener Kraft zurück als nachher noch per Motorschlitten aus dem Nirgendwo geholt werden zu müssen.

In der letzten Nacht – kurz vor dem Ziel – wehte es nochmal kräftig ums Zelt. Dann hatten wir es geschafft und waren zurück am Adventfjord.

Epilog

In Longyearbyen ging ich ins Krankenhaus. Im Eingangsbereich müssen alle die Schuhe ausziehen und so stiefelte auch ich auf Socken durch das Gebäude. Rolf Mjaaseth, ein Spesialist i generell kirurgi/ortopedi, empfing mich. Wie sich herausstellte, hatte er in jungen Jahren in Lübeck Medizin studiert. Und jetzt verfassten wir gemeinsam ein Schreiben auf Deutsch für meine Versicherung, das zum Inhalt hatte, dass es für mich und meine Genesung wichtig sei, frühestmöglich nach Hause zu reisen. Denn ohne eine vor Ort gestellte Diagnose samt entsprechendem Schriftstück würde die Reiseabbruchversichezung nicht greifen und die Kosten für eine Flugumbuchung nicht übernommen werden.

Tags drauf saßen wir im Flieger – ein paar Tage früher als ursprünglich geplant. Unter uns zog ein letztes Mal die Arktis vorbei – dann war unser Ausflug nach Svalbard Vergangenheit. Ich war glücklich, endlich einmal so hoch im Norden gewesen zu sein und arktische Luft geschnuppert zu haben. Aber gleichwohl zerknirscht, weil ich wusste, dass es zu wenig war.

PS: Zu Hause stellte ein Orthopäde ein HWS-Syndrom fest. Beim Physiotherapeuten waren sechs Termine notwendig, bis ich wieder fast schmerzfrei war.

Aus dem Projekt und Fotobuch Mein Norden.

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1 Kommentar Neuen Kommentar hinzufügen

  1. Eine solche Reise abzubrechen, wird wohl genauso schmerzhaft gewesen sein wie der eingeklemmte Nerv selbst. Aber die Bilder, die mit nach Hause gekommen sind, sind traumhaft. Von solchen Unglücken bin ich bislang noch verschont geblieben, nur von wolkenbruchartigen Regenfällen in Schweden wurde ich überrascht. Tagelang im Auto festgesessen.

    Gruß
    Jürgen

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