Reisen

Es ist mal wieder an der Zeit …

Auf der Hardangervidda, Norwegen, Foto: Martin Hülle

Vier Jahre nach meiner letzten Wintertour (einer Überquerung des Jostedalsbreen 2016), zehn Jahre nach meiner letzten Solo-Wintertour (einer Skitour über die Hardangervidda 2010) und 17 Jahre nach meiner letzten Wintertour durch den Sarek-Nationalpark im Jahre 2003 ist es mal wieder an der Zeit, mit Ski und Pulka-Schlitten durch die weiße Weite nordischer Einsamkeit zu ziehen. Im kommenden März mache ich mich daher auf, um weit nördlich des Polarkreises von Abisko über Ritsem bis nach Kvikkjokk durch das schwedische Fjäll zu laufen. Zuerst ein Stück auf dem Kungsleden, dann etwas abseits des bekannten Königspfades und schließlich als I-Tüpfelchen noch einmal quer durch den Sarek. Allein hinein in „Europas letzte Wildnis“ und unterwegs auf den Spuren meiner eigenen Vergangenheit. Auf dem Kungsleden fing Anfang der Neunzigerjahre alles an. Und im Sarek-Nationalpark glückte meine erste erfolgreiche Wintertour im Norden Schwedens.

Aber kommt erstmal mit und schwelgt mit mir in Erinnerungen – hier ist der Bericht meines Sarek-Abenteuers in jungen Jahren. Unternommen in den Osterferien 1994 kurz vor dem Abitur und erstmals veröffentlicht in Ausgabe 1/99 des Wandermagazin:

Dem Mythos auf der Spur

Auf Skiern alleine durch den Sarek-Nationalpark

An einem Samstagnachmittag erreiche ich das nordschwedische Städtchen Jokkmokk. Bis zum kommenden Montagmorgen muss ich dort allerdings nun erstmal ausharren – erst dann fährt der nächste Bus nach Kvikkjokk, dem Ausgangspunkt meiner geplanten Sarek-Durchquerung. Ich überlege noch, ein Taxi dorthin zu nehmen, doch der Preis für die knapp 200 Kilometer lange Strecke ist so schwindelerregend, dass es mich beinahe in den Schnee wirft. Also doch warten. Dem Taxifahrer ist es wohl recht so. Lieber kurvt er weiter durch Jokkmokk und trinkt zwischendurch heißen Kaffee in der Zentrale, als einen verrückten Deutschen in das einsame Nestchen am Arsch der Welt zu bringen. So niste ich mich dann für zwei Nächte im Vandrarhem ein und nutze die zur Verfügung stehende Zeit zum „Langlauftraining“ auf einer nahegelegenen Loipe. Mehr schlecht als recht drehe ich dort einige Runden. Hoffentlich wird’s im Sarek bald besser gehen.

Meine Gedanken wandern zurück, während ich in einer Trainingspause alleine am Küchentisch des Vandrarhems sitze und einen warmen Tee schlürfe. Ich bin der einzige Gast, das Haus ist von Stille erfüllt. Erst im letzten Winter war ich wegen falscher Ausrüstung am bekannten Kungsleden – nach nur einem Tag – gescheitert. Die neuen Back-Country-Ski und die Negativ-Erfahrungen dieses missglückten Trips sollen eine Durchquerung des viel schwereren Sareks möglich machen. Den Mythos, der ihn umgibt, im Kopf – das vermeintliche Wissen um extreme Kälte, brutale Stürme und endlose Einsamkeit –, habe ich dennoch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. All diese im Raum stehenden Warnungen, die den Gedanken an eine Solotour eigentlich im Keim ersticken sollten, sind es aber, die meine Phantasie beflügeln und die ich auf Wahrheit überprüfen will.

Ein früher Start
Um Viertel nach 5 spuckt mich der Bus, zusammen mit fünf Franzosen, in Kvikkjokk aus. Das tiefverschneite Nest liegt an diesem Märzmorgen menschenleer am Sakkat-See. Nachdem der Busfahrer auch die Post abgeworfen und uns in der Kälte zurückgelassen hat, tauchen wir nordwärts in den Wald ein. Langsam wird derweil die bläulich-kalte Nacht von der aufkommenden Sonne verwischt.

Einer Skidoo-Spur folgend, kommen wir auf den ersten Kilometern schnell voran. In der Gegend der zugefrorenen Seen Unna- und Stuor Dáhtá verlasse ich den Trupp Franzosen und schlage mich alleine – gen Sarek – in die sich nach Westen ausweitende Buschlandschaft. Die Boarek-Sameviste – ein kleines Lappenlager – ist mein erstes Etappenziel.

Im Wirrwarr der Birken und Fichten verlaufe ich mich aber sogleich fürchterlich. Ich folge den falschen Skidoo-Spuren, die abrupt im Nichts enden, stürze unzählige Male im grundlosen Tiefschnee der Wälder und geistre frustriert umher. Erst am späten Nachmittag – vom ewigen Suchen und nicht Finden schon ziemlich erschöpft – treffe ich auf die richtige Spur. Diese führt mich endlich hinauf in die Berge. Zwei Schweden überholen mich noch auf ihren Motorschlitten, auch sie sind auf dem Weg zur Sameviste. An diesem Abend komme ich jedoch nicht mehr dorthin, und ich baue schließlich – mitten auf deren Spur – mein Zelt auf.

Dieser erste Tag hat mich schon ziemlich geschlaucht. Aller Hunger ist mir vergangen. In den ersten geschmolzenen Schnee werfe ich bloß eine Aspirin-Brausetablette und stürze die lauwarme Flüssigkeit mit gierigen Schlucken hinunter. Ein bisschen Schokolade ist alles, was ich noch an fester Nahrung zu mir nehme.

Wo ist die Hütte?
Der zweite Tag ist nicht minder lang und anstrengend. Der Weg über den Pass des Sähkok ist steil und stark vereist. Bei meinem begrenzten skifahrerischen Können kann ich die Bretter auf den glatten Passagen nur schwerlich unter Kontrolle halten. Manche Stelle bringe ich beinahe kriechend und auf allen vieren hinter mich.

Auch hinab ins Njoatsosvágge geht es anschließend nicht besser. Des öfteren schnalle ich die Ski ab und laufe die steilsten Abschnitte – manchmal bis zu den Knien einsinkend – zu Fuß hinunter. Vom Gehen ermüdet – so aber zeitraubenden Stürzen entgangen –, komme ich zu Beginn der Dämmerung unten im Tal an.

Der Gedanke an die wenige Kilometer entfernt liegende Njoatsosstugan (Anm.: Die Hütte existiert mittlerweile nicht mehr) treibt mich aber sogleich weiter. Ich folge dem Fluß, an dem die Hütte liegt, und hoffe sie somit bei immer schlechteren Lichtverhältnissen nicht zu verpassen. Aber auch mit den Skiern sinke ich oftmals knietief ein. Ich bin zu langsam und entschließe mich dazu, bei aufkommendem Schneegestöber dann doch mein Zelt irgendwo aufzuschlagen. Bei meiner angekratzten Kondition, dem immer schlechter werdenden Wetter und der fast schon vorhandenen Dunkelheit will ich nicht zuviel riskieren. Es erscheint mir sicherer, bei noch ausreichender Fitness in relativer Nähe der Hütte sicher zu zelten, als total erschöpft von einer langen Sucherei unmittelbar neben dem Häuschen nachher noch zu erfrieren.

Zwischen ein paar mickrigen Birken und einem großen Felsblock werfe ich meinen Rucksack in den Schnee. Die Sicht schrumpft auf wenige Meter. Schneeflocken wirbeln um mich herum. Ich versuche, die Skier abzuschnallen, komme jedoch nur mit dem linken Schuh aus der Bindung. Ich fange mit dem rechten Fuß an zu zerren, zu drücken, zu reißen. Nichts tut sich. Irgendwie muss Schnee in die Bindung gelangt sein und nun lässt sie sich nicht öffnen. Von dem unwirtlichen Wetter bekomme ich schon kaum mehr etwas mit. Der Ski hält mich gefangen. In meiner Verzweiflung krame ich meine Biwakschuhe aus dem Rucksack. Den Rücken gegen den immer stärker werdenden Wind gerichtet, ziehe ich den Skischuh dann einfach aus und lasse ihn erstmal am Ski hängen. Geschwind schlüpfe ich in die leichten Biwakschuhe und kann mich endlich frei bewegen. Mit Hilfe des Schweizer-Messers gelingt es mir dann auch, den Schnee aus der Bindung zu popeln und den Schuh zu lösen. In Windeseile baue ich schließlich das Zelt in einer Schneewehe auf. Nur dürftig kann ich es mit den Skiern und Stöcken, an dem Felsen und den Birken, abspannen. Es steht krumm und schief. Als ich hineinkrieche, ist es dunkel. Aus dem Rucksack hole ich die kleine Kerzenlaterne hervor und hänge sie in den Zeltgiebel. Wie eine Schiffslaterne schwankt sie vom Sturm gebeutelt hin und her.

Schnee überall
Am anderen Morgen überzieht eine feine Schneeschicht jegliche Ausrüstung in der Apsis. Unerbittlich hat der Wind unter dem miserabel abgespannten Heck des Zeltes hindurch Schnee nach vorne getrieben. Selbst in meine Schuhe haben sich einige Flocken verirrt. Notdürftig krame ich sie mit bloßen Händen heraus.

Auch der weitere Weg ist von grundlosem Schnee gekennzeichnet. Wiederholt sinke ich mit den Skiern tief ein. Doch nach nur einer guten Stunde Marsch – weit wäre es am vorigen Abend tatsächlich nicht mehr gewesen – öffne ich die kleine Tür der Njoatsosstugan. In ihrer winzigen Gemütlichkeit bleibe ich den Rest des Tages und erhole mich – kochend und lesend – von den bisherigen Anstrengungen. Dabei bin ich froh, es gestern nicht bis zum bitteren Ende ausgereizt zu haben.

Ein uriger Kauz
Zwischen den steilaufragenden Wänden des Tsähkkok und des Vássjábákte hindurch, den drei Njoatsosjávrre-Seen folgend – auf deren ebener Schneedecke man zügig vorankommt –, erreiche ich anderntags schon zeitig die nächste Hütte, die Álggastugan (Anm.: Die Hütte existiert mittlerweile nicht mehr).

Dabei treibt mich ein starker Rückenwind voran, der auch eine beängstigend dunkle Wolkenwand hinter mir auftürmt. Ein Schneesturm scheint aufzuziehen. Ich beschleunige meine unbeholfenen Schritte und laufe pausenlos weiter. Gerne hätte ich eine kleine Abfahrt zur Zeiteinsparung genutzt. Doch mal wieder reißt es mich zu Boden, so dass ich mich wieder behutsam hinabtasten muss, um mir nicht bei einem weiteren Sturz mal ein Knie zu verdrehen. Der Sturm zieht vorbei und erwischt mich nicht. So habe ich nun keine Probleme die stark eingeschneite Hütte ausfindig zu machen.

Dort treffe ich auf einen urigen Kauz. Sein schweres Baumwollzelt trocknet über dem Hüttenofen, und er sitzt in alte Woll- und Lodenkleidung gehüllt, mitsamt einem Hund, in einer dunklen Ecke. Auf einem simplen uralt Benzinkocher köchelt sein Haferbrei. Ich geselle mich zu ihm und komme mir mit meiner High-Tech-Ausrüstung fast etwas deplaziert vor. Nur sein recht moderner Kunstfaserschlafsack zeigt, dass er der Amundsen-Ära doch schon etwas entsprungen scheint.

Ins Herz des Sarek
Durch das wunderschöne Álggavágge, wo der Wind mir während einer Pause beinahe einen Fäustling entreißt, und einer weiteren Nacht in einer offenen Renvaktarstuga, führt mich mein Weg nach Skárjá – dem Herzen des Sarek. Dort – an der Mikkastugan – treffe ich auf zwei Deutsche. Wir machen gemeinsam Rast und blinzeln dabei in die wärmende Mittagssonne. Aus der geöffneten Tür des dortigen Plumpsklos kann ich auf die höchsten Sarek-Gipfel blicken. Gerne würde ich dort oben stehen und hinabschauen über die endlose weiße Weite. Aber auch dieser Platz erfüllt mich mit Zufriedenheit – der angestauten Bedürfnisse kann ich mich in diesem Holzhäuschen, vor Wind geschützt, entledigen. Bei strahlendem Sonnenschein und wolkenlos blauem Himmel lasse ich den Sarek-Mittelpunkt, auch die „Gesprächspartner für kurze Zeit“, zurück, um mir in dem breiten Ruohtesvágge ein Plätzchen für meine Stoffhütte zu suchen.

Die Nacht im Ruohtesvágge ist erbärmlich kalt. Fröstelnd liege ich im Schlafsack und finde nur schwerlich verdiente Ruhe. Es sind bestimmt minus 20 Grad – draußen sicherlich noch etwas mehr. Im Gegensatz zu traumhaft klaren Tagen laden klare Nächte kaum zum Träumen ein. Ich bin froh, als sich irgendwann in der Nacht eine Wolkendecke über das Tal legt und es sachte anfängt zu schneien. Da wird es wieder etwas wärmer.

Am Morgen wabern dicke Schneeflocken ums Zelt – begrenzen die Sicht auf ein Minimum. Trist und traurig sieht es aus. Nachher wird es sogar stürmisch. Ich beschließe, den Tag im Zelt zu verbringen und setze meine Füße erst gar nicht vor die Apsis. Eine Weithalsflasche muss als Pissoir herhalten. Ansonsten versuche ich, in der Enge des kleinen Zeltes einige Selbstportraits zu machen und lasse mich – bei einer Lektüre Günther Grass’scher Satzkonstruktionen – das unwirtliche Wetter zeitweise vergessen.

Als Fußgänger im tiefen Schnee
Kurz bevor ich am darauffolgenden Tag den Sarek-Nationalpark verlasse und die Kisurisstugan am Padjelantaleden erreiche, passiert mir eines der größten Unglücke, die einen auf einer Wintertour erwischen können. Der Metallstift in meinem Schuh – die Verbindung zum Ski – bricht und macht die Einheit unbrauchbar. Schon seit Tagen bekam ich die Probleme damit nicht in den Griff. Die Bindung vereiste ständig, und nur mit Gewalt bekam ich die Ski dann vom Fuß. Nun bin ich urplötzlich zum Fußgänger degradiert.

Der phantastische Blick auf die Eiskaskaden an der Nordwestwand des Niják ist sofort vergessen – die Ski in den Händen hinter mir herschleifend, bewältige ich mühevoll die letzten Kilometer zur Hütte. Frustriert von all dem Einsacken, halte ich dort zuerst eine Sitzung auf einem der Plumpsklos. Ich beschließe, weitere Entscheidungen auf den nächsten Morgen – den letzten Tag der Tour – zu verlegen, und breite mein Lager erstmal in der kalten STF-Hütte aus. Die Gasheizung bekomme ich nicht in Gang – nur eine alte Petroleumlampe gaukelt mir etwas Wärme vor.

Glücklicher Endspurt
Am Morgen tauchen unvermittelt zwei Hüttenwarte auf. Ich spreche sie auf meine missliche Lage an, und nach einiger Überlegung borgt man mir ein Paar Schneeschuhe. In Gällivare soll ich sie vor Beginn meiner Heimreise bei der Polizei abgeben. Man wird sich die Bärentatzen da wieder abholen. Erstaunt über soviel Vertrauen, die Ski am Rucksack befestigt, komme ich über eine festgefahrene Skidoo-Spur relativ problemlos zum Áhkájávrre, das gewaltige Áhkká-Massiv im Rücken.

Mit den Schneeschuhen war ich aber langsamer als mit den Skiern an den Tagen zuvor. Deshalb möchte ich mich von dem nur schwedisch sprechenden, alten Hüttenwart der Akkastugorna die letzten zwölf Kilometer per Skidoo über den riesigen Áhkájávrre nach Ritsem bringen lassen. Mit Händen und Füßen kann ich einen akzeptablen Preis aushandeln. Letztendlich sind wir beide zufrieden und sitzen uns in der warmen Hütte lächelnd gegenüber.

Auf dem hölzernen Anhänger seines Motorschlittens friere ich mir fast noch die Füße ab und werde nicht übel durchgeschüttelt. Aber in all meine Kleidung gepackt, die Mütze weit über beide Ohren gezogen, überstehe ich auch noch diesen windigen Trip.

Am Ziel
Müde und ausgelaugt stehe ich unter einer warmen Dusche in der Fjällstation von Ritsem und lasse mir das Wasser über den Körper rinnen. Ich denke an die letzten Tage zurück. Einsamkeit habe ich erlebt. Schnee umhüllte mich. Wind zerrte am Zelt. Kälte ließ mich in mancher Nacht frösteln. Ich durfte am Mythos des Sarek schnuppern. Körper und Geist wurden auf eine harte Probe gestellt.

Die Route
Kvikkjokk – Boarek – Njoatsosvágge – Álggavágge – Skárjá – Ruohtesvágge – Kisurisstugan – Akkastugorna – Ritsem

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