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„We have to dream it all up again“

We have to dream it all up again, Foto: Martin Hülle

Es war der 30. Dezember 1989, als Bono, unzufrieden mit der Stagnation von U2, während der Lovetown Tour in Dublin diese legendären Worte sprach:

„We’ve had a lot of fun, just getting to know the kinda music that we didn’t know so much about. I was explaining to people the other night, but I might have gotten it a bit wrong, that this is just the end of something for U2, and that’s why we’re playing these concerts. We’re throwing a party for ourselves and for you. It’s no big deal, we have to go away and just dream it all up again.“

Niemand wusste, was das zu bedeuten hatte. Viele Fans fürchteten, soeben die letzten Klänge der Band gehört zu haben … Dabei waren U2 „nur“ auf dem Weg, sich nach dem riesigen Erfolg von „The Joshua Tree“ und des umstrittenen Nachfolgealbums „Rattle and Hum“ neu zu erfinden. Als U2 dann 1991 der Musikwelt „Achtung Baby“ schenkten, war diese darauf jedoch nicht vorbereitet und wurde mit industriellen, düsteren und schwermütigen Klängen überrollt. Mit dem, was die Band in den Achtzigern ausgezeichnet und in den Rock-Olymp gehoben hatte, hatte das nichts mehr zu tun. Die vier Iren, zuvor noch als griesgrämige Gebetsbrüder verspottet, präsentierten sich der Welt nun schrill, bunt und in Frauenkleidern. In dem Moment ahnte kaum jemand, dass ein Meisterwerk geboren war.

Alles zurück auf Anfang also! Das liegt nun bereits über 20 Jahre zurück und auch meine beiden Krampfanfälle, die mich Anfang Mai von den Beinen holten, sind schon eine Weile her. Im Krankenhaus und der Zeit danach stellte ich die Frage nach dem Sinn. Für irgendwas musste es gut sein … Mit angeknabberter Psyche lag ich körperlich geschwächt am Boden. Zwischen einem Gefangensein im Hier und Jetzt, dem Gefühl von Stillstand und Niederlage. Und der Option auf einen Neustart, der oft einer Krise innewohnt. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt, bei der in einem Moment alles verloren und im anderen alles möglich erschien. Es galt diese Möglichkeiten zu finden und nicht im Unmöglichen zu erstarren.

Mit der Diagnose Epilepsie in der Tasche erinnerte ich mich an Bono’s Worte. Und während ich die ersten neuen Schritte tat, reiften die Pläne und Ideen für einen neuen Aufbruch. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, wozu dieser Zwangsstopp aufgrund der Krankheit gut sein könnte. Der steinige Weg besserte sich Meter für Meter und das Licht am Ende des Tunnels wurde heller und heller. Aber ich wollte nicht einfach mein altes Leben zurück, alles nur so haben, wie es vorher war. Nein, ich wollte diese Zeit des Innehaltens nutzen, mich neu zu fokussieren. Gar Veränderungen ins Auge fassen. Dinge über Bord werfen, Geliebtes neu entdecken.

Im Kopf entstand ein Gerüst für ein Langzeitprojekt raus aus der Krisenzeit. Zunehmend sah ich die Krankheit nur als einen Teil, der zwar vorerst immer da ist, der aber nicht bestimmt. Auch wenn sich Chaos und Ungewissheit nur schwer abschütteln ließen. Wie die Frage, ob es trotz der Krankheit möglich wäre, neue Wege zu gehen und weiterzukommen. Oder ob gerade dieses „kranksein“, diese Phase, manches erst ermöglichen würde?

Manchmal war es einfach zum Kotzen

Es war ein Auf und Ab. Zuerst machten sich Schwindel und Müdigkeit breit, hervorgerufen durch die Tabletten. Als die Nebenwirkungen nachließen, kam der Durchfall. Zwei Wochen lang. Doch dann, nach der Scheißerei, schien es endlich aufwärts zu gehen. Bis mir mein geschwächtes Immunsystem noch eine Gürtelrose bescherte. Ein weiteres Hindernis, das es zu überwinden galt. Über zwei Monate diese ständigen Angriffe auf Körper und Psyche. Kaum die Möglichkeit einer Auszeit. Immer wieder was Neues. Ein Schritt vor und zwei zurück. Manchmal war es einfach zum Kotzen.

Wir wollten nur noch weg. Nach Schweden und Norwegen – auf unser imaginäres Sofa. Nach all meinen gesundheitlichen Querelen endlich die richtige Erholung finden, Abstand gewinnen, den Stress abschütteln. Und Kraft tanken für den Neuanfang, die Akkus wieder aufladen. Nach letzten Nickligkeiten waren wir dann auch endlich fort. Vier Wochen lang. Zurück aus dem Norden – von Meeresküsten, Waldpfaden und Berggipfeln – brachten wir die ersehnte Erholung mit. So, wie wir es uns gewünscht hatten. Charging Complete sozusagen.

Selma sprach in diesem Urlaub ihren ersten korrekten Satz: „Ich möchte raus!“ Drei Worte, die für mich zu einer Art Mantra wurden. Auch ich wollte raus. Wieder raus. Zu den Orten im Norden, an denen meine Passion für diese Landschaften ihren Anfang genommen hatte, die mir im Laufe meines Reiselebens wichtig wurden. Aber auch zu neuen Orten, dorthin, wo ich noch nicht war.

Während unserers Unterwegsseins reifte der Plan, das Konzept für das neue und große Projekt weiter. Für das, was ich nach unserer Familienreise beginnen wollte – nach den Wirren und dem Krankheitsscheiß. Entwickelt aus und durch die Krise. Und mit dem „Zurück auf Los“ stecke ich jetzt schon mitten drin, habe mit der Sarek- und Padjelanta-Durchquerung den ersten Schritt getan. Diese Tour markiert, nach der schweren Zeit des zurückliegenden Sommers, den Beginn des Neuanfangs. Sie ist die erste Reise der Idee, die mir im Kopf sitzt, seitdem es mich im wahrsten Sinne umgeworfen hatte. Jetzt will ich das beginnen, und fortführen, was all dem dann vielleicht doch einen Sinn verleiht. Das, wozu es gut war.

Eine Liebeserklärung

Mein Norden. Ich will zurückkehren zu meinen Anfängen. Aber gleichermaßen auch aufbrechen zu neuen Abenteuern. Mit kindlicher Entdeckerfreude und voller Emotionen. Das Projekt soll eine Liebeserklärung an raue Landschaften, karge Regionen und eine intensive Art des Unterwegsseins werden. Auch, weil sich wie bei U2 eine Stagnation bei mir eingeschlichen hatte, nach erfolgreichen Expeditionen und all den Reisen seit Beginn der Neunzigerjahre. Großes Neues wollte in der letzten Zeit nie so recht klappen. Viel verpuffte, wurde zu Nichts. Schließlich die Epilepsie, letztendlich für mich die Besinnung. Der Auslöser, alles nochmal neu zu träumen. Wie es Bono mit seinem „We have to dream it all up again“ ausdrückte.

Über zehn Reisen in den Norden sollen es werden. Nach Schweden, Norwegen und Finnland, nach Schottland und Island, auf die Färöer-Inseln, nach Svalbard und nach Grönland. Vier Jahre Aufbruch. Zu allen Jahreszeiten hinein ins Abenteuer. Allein, mit Freunden und der Familie. Wanderungen und Skitouren dokumentiert in Bildern und Texten, die Emotionen transportieren und von Erlebnissen erzählen.

Die Solo-Durchquerung der Sarek- und Padjelanta-Region bot bereits alles, was eine gute Tour ausmacht. Anspruchsvolles Gelände, wechselhaftes Wetter, Unsicherheit, Freude, grandiose Landschaften, miese Stimmungen und ein tiefes Eintauchen in die Zeit vor Ort. Keine Oberflächlichkeit, kein schnelles Abenteuer. Es war eine Wanderung mit Haut und Haar. Jeder Moment kostbar – egal ob vor Kälte zitternd oder in die Sonne blinzelnd.

Doch ohne das Herausgerissensein in diesem Sommer hätte ich nicht zu diesem Schritt gefunden. Zum gleichsamen zurück in alte Gefilde und voran in neue Gebiete. Von so vielen früheren Reisen kenne ich den Norden und will ihn trotzdem nochmals ganz neu entdecken. Der Weg zurück auf Los, dieser Umweg ans Ziel, soll mich am Ende weiterbringen als vieles zuvor.

Aber nicht nur die Reisen an sich sind von Bedeutung. Die Wiederkehr zu Orten, die mir etwas bedeuten. Der Aufbruch zu Plätzen, von denen ich schon immer geträumt habe. Die Dokumentation ist ebenso wichtig. Und auch hier durchlebe ich den Wunsch, zurück zum Anfang zu wollen. Meine früheren Bilder sind Schall und Rauch. Ich begebe mich jetzt zudem auf die Suche nach neuen Sichtweisen, neuen Bildstilen, anderen Farben und Kontrasten. Das Alte zählt nicht mehr. Es braucht Neues. Um zu den jetzigen Reisen und den damit verbundenen Emotionen zu passen.

Daher ist das gesamte Projekt nicht nur ein Neuanfang im eigentlichen Sinn, sondern zugleich auch eine Weiterentwicklung, an dessen Ende Veränderung auch in den Bildern der Unternehmungen erkennbar sein soll. Ich bin gespannt – und nach wie vor fast so aufgeregt wie vor meiner allerersten Reise.

Mein Norden – Eine Liebeserklärung. Kommt mit und begleitet mich.

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3 Kommentare Neuen Kommentar hinzufügen

  1. Dennis sagt:

    Du solltest ein Buch über diese Geschichte schreiben. Das hilft vielleicht auch anderen, mit einer ähnlichen Situation umzugehen. Ich verfolge Deinen Weg gespannt und freue mich, dass Du wieder auf den Beinen bist!

  2. Erika sagt:

    Eine inspirierende Geschichte, wunderschön erzählt. Jetzt, wo das Projekt fast fertig ist, freue ich mich wie ein Schnitzel auf Dein Werk. Gratulation zu Deinem Mut und Deinem Durchhaltevermögen. Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute und natürlich auch, dass dieses Mammutprojekt am Ende mit einem großartigen Buch und mit Erfolg gekrönt ist. Es ist cool, dass Du das Buch ohne einen Verlag anpackst, dann kommt bestimmt etwas Individuelles, Liebesvolles raus. Alles Gute dafür!!

    Liebe Grüße

    Erika
    ulligunde.com

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